Michael Hirsch hat in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" die Erneuerung der Arbeitsgesellschaft gefordert. Hier der Anfang und ein weiterer Auszug seines Aufsatzes:
"Die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um ganze fünf Euro wurde von der Regierung Merkel vor allem mit dem Lohnabstandsgebot und der Notwendigkeit begründet, den Arbeitslosen Arbeit zu vermitteln, statt ihnen Hartz IV zu zahlen. Dieser vollmundigen Ankündigung stehen jedoch unverändert strukturelle Massenarbeitslosigkeit, wachsende Armut, soziale Exklusion und gesellschaftliche Spaltung gegenüber. Faktisch erleben wir derzeit eine erstaunliche Akkumulation der Krisen. Die diesen insgesamt zugrunde liegende Krise der Arbeitsgesellschaft als solcher muss, jedenfalls in einem demokratischen Rechts- und Sozialstaat,entweder zu einer Revision der geltenden gesellschaftlichen Basisinstitutionen führen – oder zu wachsenden sozialen Ungleichheiten.
Genau in diese zweite, fatale Richtung gehen die bisher in den westlichen Staaten gewählten politischen Krisenstrategien, auch in Deutschland. Sie führen zu systematischer Verknappung des Zugangs aller zu ausreichendem Einkommen, sinnvoller Arbeit und sozialer Anerkennung. Die Folge sind immer schärfere Kämpfe um den Zugang zu sozialen Gütern und zu Erwerbsarbeit. Der Verteilungskampf wird dabei in letzter Instanz um die soziale Existenzberechtigung der Subjekte geführt.[1] Das gegenwärtige politische Regime verunsichert, indem es das volle soziale Existenzrecht nicht mehr allen zugesteht.
All das spielt sich vor dem Hintergrund eines in die Krise geratenen Verständnisses von „Normalität“ ab. Dabei handelt es sich um ein Phänomen mit zwei wesentlichen Aspekten: eine Krise der real existierenden Arbeitsgesellschaft und eine Krise der herrschenden Geschlechterordnung, oder, beide zusammengefasst, um eine Krise der androzentrischen (männerbetonten) Arbeitsgesellschaft als der vorherrschenden Lebensform westlicher Gesellschaften.
Die entsprechende soziale Grundnorm, welche heute den Hintergrund für die gesellschaftlichen Beurteilungen oder Verurteilungen der sozialen Existenz der Menschen abgibt, ist die Norm der kontinuierlichen Vollzeitbeschäftigung in Erwerbsarbeit. Alle anderen Lebensformen erscheinen demgegenüber als abweichend und defizient. Im Zuge wachsender wirtschaftlicher Rationalisierung von Arbeit fallen daher immer mehr Menschen aus der vorausgesetzten Normalität der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft heraus: Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Leiharbeiter, Teilzeitarbeiter usw. ...
Radikale Reformen unserer Arbeitswelt sind damit verbunden. Nancy Fraser postuliert, dass der Schlüssel zur Verwirklichung der vollen Gleichheit der Geschlechter darin liegt, „die gegenwärtigen Lebensmuster von Frauen zum Standard und zur Norm für alle zu machen.“ Das kann man sich gar nicht konkret genug vorstellen: „Alle Arbeitsplätze würden für Arbeitnehmer zur Verfügung stehen, die auch Betreuungsaufgaben haben. Alle wären mit einer kürzeren Wochenarbeitszeit verbunden.“ Damit wird deutlich, dass eine bloße materielle Grundsicherung durch ein Bürgergeld nicht für eine egalitäre Lösung gesellschaftlicher Verteilungskonflikte ausreicht. Eine wirklich fortschrittliche Strategie wird daraus erst, wenn die Vergrößerung der sozialen Sicherheit mit einer Zunahme der verfügbaren Zeit und mit der prinzipiellen Veränderung der Konventionen der Arbeitsverhältnisse verbunden wird – wenn also tatsächlich in die Arbeitszeitnormen und damit in die den Alltag strukturierenden Lebensgewohnheiten der Menschen eingegriffen wird. Dies wäre dann tatsächlich die konkrete Ausprägung der Normen von Gleichheit und Pluralität auf dem avanciertesten Niveau."
(Hervorhebungen und Erläuterungen vom Blogautor Helge Mücke)
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