Der Nachhaltigkeitskongress Rio-plus-20 Nachhaltig vor Ort - zugleich der 5. Netzwerk21Kongress - fand diesmal in Hannover statt, vom 7. bis 9. Dezember 2011.
Professionell organisiert, mit zahlreichen Unterstützern, eine Fülle an Informationen, ein wichtiger Kongress, ohne Frage. Das sei vorweg gesagt, damit nicht alles nur negativ klingt. Auf der organisatorischen Ebene wurde also sehr viel gearbeitet, das verdient höchsten Respekt. Dennoch bleibt bei mir ein gemischter Eindruck: Es wurde zu viel geredet und zu wenig gearbeitet (mit den Teilnehmern). Natürlich müssen auch Reden - Vorträge - sein, aber es gab ja auch sogenannte Arbeitsgruppen - ehrlich gesagt, unter Arbeitsgruppen verstehe ich etwas anderes!
"23 überregionale Organisationen aus Politik, Wirtschaft, Umwelt- und Verbraucherschutz haben sich in Hannover vom 07. bis 09. Dezember 2011 auf Einladung der Landeshauptstadt zum Kongress „Rio+20 – Nachhaltig vor Ort! & Fünfter Netzwerk21Kongress getroffen.
In rund 30 Arbeitsgruppen haben mehr als 600 Fachleute aus Stadtverwaltungen, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaft, Vertreterinnen der Medien und Zivilgesellschaft sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Fragen diskutiert wie: Gelingt es den Kommunen, ihre Finanzpolitik auf Nachhaltigkeit auszurichten? Wie werden sich unsere Städte zukunftsfähig entwickeln? Welche Rolle übernimmt die lokale Wirtschaft? Wie gelingt eine solidarische und gerechte Lebensweise? Wie können Städte klimaneutral werden?" (Zitat aus dem Pressetext)
Am Donnerstag begann es mit einem Eröffnungsplenum (von der Eröffnung am Mittwoch und dem Frühstück am Donnerstagmorgen sehe ich hier ab). Das war auch der Platz für die Prominenz und ihre Grußwort-Begleitung: Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil, Sha Zukang als UN-Vertreter (verlesen), Umweltminister Norbert Röttgen (als Videobotschaft, denn er war ja gerade in Durban), der ehemalige Bundesumweltminister und UNEP-Generalsekretär Klaus Töpfer und die eindrucksvolle Vandana Shiva, Trägerin des alternativen Nobelpreises. Der allgemeine Tenor der Reden: Vor zwanzig Jahren war große Aufbruchstimmung, da wurde auch vieles in Gang geschoben - aber jetzt fragt man sich verwundert, warum eigentlich nur so wenig erreicht wurde? "Nachhaltigkeit" sei inzwischen in aller Munde (so Weil), kein Nischenthema mehr, geradezu ein Modewort mit der Gefahr der Verwässerung - andererseits sei die Situation schlechter geworden, eine echte Umkehr noch lange nicht erreicht.
Am wirkkräftigsten war die Rede von Klaus Töpfer, ein überzeugender Redner, humorvoll und mit Substanz. Ein paar Gedanken nach meiner Mitschrift (leider ist dieser Text bisher nicht abrufbar): Rio plus 20? Besser müsste es heißen: Rio 20 plus - das wäre zukunftsgerichtet. Bloch hat sinngemäß gesagt: Nur dasjenige Erinnern ist fruchtbar, welches an das erinnert, was noch zu tun ist. In den 20 Jahren hat es in der Wirtschaft massive Veränderungen gegeben (Globalisierung, Finanzwirtschaft). Kurz gesagt, wir ertrinken in Geld, und haben (angeblich) doch kein Geld für eine nachhaltige Gestaltung. Indikator für den Grad der Demokratie ist, so scheint es, der Schuldenstand. Die "Alternativlosigkeit" aus der Sicht der Politiker birgt große Gefahren - wir unterwerfen uns dem Diktat der Kurzfristigkeit. Die Reduktion auf das Ökonomische, auch bei Nachhaltigkeitsideen, ist ein großer Fehler. Unter der Nicht-Nachhaltigkeit des Finanzwesens haben die Ärmsten der Armen der ganzen Welt zu leiden. Das führt zu der sozialen Dimension, der zweiten Säule der Nachhaltigkeits-Praxis. Alle drei Säulen müssen in Richtung Nachhaltigkeit zusammenwirken: Ökonomie - Sozialverhältnisse - Ökologie. Das wichtigste grundsätzliche Ziel ist, so Töpfer, Kreisläufe zu schließen. Beim Abfall ist man da wenigstens auf dem Wege - hier müsste man es hundertprozentig schaffen, die Natur kennt überhaupt keine Abfälle! Den Kreislauf des CO2 zu schließen ist noch lange nicht gelungen; CCS (= Carbon Dioxide Capture and Storage) - die Speicherung also - kann keine sinnvolle Lösung sein, besser wäre CCU (... use), die (Wieder-)Verwendung; Nutzung statt Speicherung! Das sind Herausforderungen der Forschung und Industrie; erste Ansätze sind Verfahrensweisen der Umwandlung in Methan oder in Ameisensäure. Wie sieht es aus mit den Kreisläufen in der Stadt - schließlich heißt der Kongress "Nachhaltig vor Ort"? Auch da ist man nicht weit genug, aber die Chancen auf lokaler Ebene sind groß, wenn es politisch gewollt wird. Die Energie- und Ressourcen-Effizienz muss revolutionär verändert werden! Mit Kraft-Wärme-Kopplung wäre viel zu erreichen. Wenn schon "Abwrack-Prämien", dann sollte man sie für alte Heizungen einführen! Smart grid - die "intelligente" Elektrizitätsversorgung - ist ein guter Weg. Eine konsequente Kreislaufwirtschaft ist anzustreben. Die Initiative Urban Mining ist sehr zu begrüßen. Möglichst viele dezentrale Netze schaffen! Wichtig: den Menschen nicht zum Objekt, sondern zum Subjekt der Energiewende machen! Im ökologischen Bereich - siehe Kongress in Durban - ist erschreckend wenig erreicht. Letztes Jahr gab es einen Rekordanstieg an CO2 - auch ausgerechnet in Deutschland! Es ist also, so abschließend Töpfer, noch ganz viel zu tun, aber es gibt keinen Grund zur Resignation, insbesondere auf kommunaler Ebene.
Danach spricht Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des deutschen Bundestages, über die moralisch-ethische Dimension der Nachhaltigkeit. Darüber allerdings habe ich wenig erfahren. Es war mehr eine Zustandsbeschreibung, bei der auch die neue "Graswurzelbewegung" vorkam. Es gebe zur ethisch-moralischen Dimension mehr Fragen als Antworten, äußerte die Politikerin. Vielleicht ist das gerade das Typische unserer Zeit, das von übers Internet vernetzten jungen Menschen "von unten" ganz viel angepackt wird, ohne dass es einer gemeinsamen ethischen Grundlage bedarf? Frau Göring-Eckardt beruft sich auf das Buch von Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, sowie auf die Studie der evangelischen Kirchen von 2008 "Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt".
Auf eine Aufweck-Pause mit der Percussiongruppe Boundz (beeindruckend) folgte ein Vortrag von Marion Solbach, der Nachhaltigkeitsbeauftragten der Galeria Kaufhof (Metro) mit dem Titel "Nachhaltigkeit als Herausforderung der Wirtschaft". Das war vor allem PR in eigener Sache. Ich bin ja sehr dafür, dass man auf so einem Kongress die ganze Bandbreite kennenlernt, insofern war es richtig, dass dieser Vortrag dabei war - andererseits schüttelt es mich immer, wenn Wirtschaft und Industrie den Eindruck erwecken, als seien sie Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit (ein weiteres Beispiel erwähne ich unten) - ganz im Gegenteil, sie hinken lahm hinterher, manchmal von Kundendruck, manchmal von politischen Vorgaben gezwungen. Zum kritischen Hinterfragen oder Diskutieren reichte die Zeit bei dieser Veranstaltung jedoch nicht.
Abschließend gibt es an diesem Vormittag eine Gesprächsrunde zur aktuellen Studie "Nachhaltig vor Ort - Eine Bilanz 20 Jahre nach Rio". Eine Zusammenfassung der Studie kann auf der Netzseite von Rio+20 nachgelesen werden. Bevor Sie selber rätseln: LA21 bedeutet Lokale Agenda 21. Und ein kurzes Zitat: "Unsere Studie unterstreicht, dass Akteure aus der Zivilgesellschaft häufig die treibende Kraft für Nachhaltigkeitsaktivitäten auch auf kommunaler Ebene waren und sind. Und unsere Umfrageergebnisse belegen, dass dort wo Bürgerbeteiligung gut läuft auch innovative Ideen und entsprechende Effekte entstehen."
Weitere Informationen zum Eröffnungsplenum finden sich auf der bereits genannten Netzseite unter dem Menüpunkt Programm.
Es ist immer schwierig, bei mehreren parallel laufenden Arbeitsgruppen sich für eine zu unterscheiden, das Problem aller Kongresse. In der ersten Runde nach der Mittagspause hatte ich mich für die Arbeitsgruppe 6 A entschieden: Grüne Stadt - Illusion oder neue Lebensqualität? Wie ich eingangs schon kritisch angemerkt habe, wurde in den Arbeitsgruppen zu viel geredet und zu wenig (gemeinsam) gearbeitet (ich nehme an, dass es in allen ähnlich war). Die eingeladenen Referenten trugen nacheinander ihre Beiträge vor; danach blieb wenig Zeit für ein paar Fragen aus dem Publikum - mehr nicht. Es wurde kein Arbeitsergebnis erarbeitet. Positiv aber fand ich, dass man die verschiedensten konkreten Beispiele aus anderen Städten kennenlernen konnte. Ich zähle einige davon nachfolgend auf, möglichst mit weiterführendem Link. Ein Teil der Referate lässt sich über die Queradresse hier nachlesen.
Ludwig Sothmann (LBV Bayern, DNR) hebt u.a. hervor, dass die Naturschutzarbeit sich jetzt erst stärker der urbanen Struktur widmet. Die Biodiversität muss nachhaltig gefördert und verbessert werden. Sothmanns Referat empfehle ich zum Nachlesen. Martin Glöckner von Green City München nennt als Beispiele für Aktionen u.a.: Call a Bike der Bahn, Wanderbaumallee, Parking Day, Guerilla Gardening. Die sehr überzeugende Christa Müller, Autorin des Buches "Urban Gardening", nennt eine Reihe von Beispielen, die praktiziert wurden: Rosa Rose, Ton,Steine, Gärten in Berlin, Interkulturelle Gärten in Göttingen und anderen Städten, koordiniert von der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis, München, deren Geschäftsführung Christa Müller angehört.
In der zweiten Runde der Arbeitsgruppen (ab 16 Uhr) habe ich zum Thema Nachhaltigkeit in der Bildung die Gruppe 11B besucht: Wir wissen genug - alltagspraktisches Handeln ist angesagt. Das war zu erwarten - zu allererst, schon vom Moderator Dieter Schoof-Wetzig, wurde der Titel korrigiert: Wir wissen natürlich nicht genug. Aber wir wissen so viel, dass wir HANDELN können - sollten - müssen! Die Übersicht über diese Arbeitsgruppe, wiederum mit Link zu den Texten einiger Referate, ist hier zu finden.
Ich nenne die Referenten und gebe Notizen in einigen wenigen Sätzen wieder: Prof. Dr. Rudolf zur Lippe, zuletzt Universität Witten-Herdecke: Nachhaltigkeit nicht nur vom Negativen definieren (s. Monokultur) - Vielfalt einbeziehen, nicht nur als Vielzahl, sondern als Beziehungsnetz. Zum Wissen gehört außer den naturwissenschaftlichen Ergebnissen auch das traditionelle Wissen inidigener Völker. Mitwelt wichtiger Begriff - dazu passt der relativ neue wissenschaftliche Begriff der Ko-Evolution. Das Miteinander des Verstehens, des Aufeinander-Hörens. Begriff der Wahrnehmung. Nachhaltigkeit auch Frage der Ästhetik - praktische Ästhetik ist ein Akt des Widerstandes gegen die gegenwärtige Ästhetik. Beispiele von Personen mit Wandelgeschichte: ein Bäcker, der ohne Messinstrumente arbeitet; ein alternativer Gemüsebauer am Kaiserstuhl; Menschen, die Urban Gardening betreiben usw. Hannes Siege, Berichterstatter der KMK für Bildung für nachhaltige Entwicklung: Sein Referat kann hier nachgelesen werden. Der für mich wichtigste Satz: Wissen und Handeln stehen in einem komplexen, keinesfalls linearen, Zusammenhang. Ein "du sollst handeln" darf es in der Bildungsarbeit nicht geben (Überwältigungsverbot). Es soll immer ein "Handeln auf Probe" sein (bevor in späterem Alter die eigenen freien Entscheidungen getroffen werden). Im kurzen Nachgespräch nennt ein ehemaliger Waldorfschüler das Landwirtschaftspraktikum als gutes Beispiel für ein solches Handeln auf Probe. Dr. Andreas Müller, Handwerkskammer Bildungszentrum Münster: Auch sein Referat - die Präsentation - lässt sich im Netz nachträglich anschauen. Die Grundlagen für Kompetenzen im nachhaltigen Bauen schaffen. 12 Lernmodule zum nachhaltigen Bauen. Wie ist es mit nachwachsenden Baustoffen? Wie weit ist die Forschung? Dr. Regine Leo berichtet vom wegweisenden Schulbiologiezentrum Hannover, das sie selber leitet. Seit 1974 gibt es den ökologischen Lernort - es geht um Erforschen, Begreifen und Verstehen von Natur und naturwissenschaftlichen Phänomenen anhand von lebenden Tieren und Pflanzen.
Zu berichten wäre noch von einem Teilplenum und dem Abschlussplenum am Freitag. Fortsetzung folgt ...
Bildquelle: Das Foto wurde nicht in Hannover, sondern in Hildesheim aufgenommen, was nicht allzu weit entfernt ist. Es stammt von Irene Lehmann aus pixelio.de
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